In Gedenken an meine Mama

Liebe Mama,
heute war deine Beerdigung. Alle deine Kinder waren da. In der Trauerhalle war kein einziger Platz mehr frei. Auf deinem Sarg lagen weiße Lilien und elf Schleifen mit den Namen deiner Kinder. Fünf an der rechten und fünf an der linken Seite. Und die wichtigste Schleife war an deinem Fußende, in goldenen Buchstaben, die deines Mannes. Viele wunderschöne Kränze schmückten umliegend den Bereich. Ein Strauß weißer Rosen, 77 Stück, für jedes Lebensjahr eine, dekorierte mit den umstehenden Kerzen die Andacht. Ein Streichkonzert setzte ein, so wunderschön, das hätte dir ganz sicher gefallen. Der Pfarrer, ein junger Mann, wie du es dir gewünscht hast, kam durch eine Seitentür herein und verbeugte sich vor dir. Der Ton in seiner Stimme war sehr angenehm, als er über dein Leben sprach, über deine Familie, über uns Kinder und natürlich über deinen Mann. Zwischendurch wurden deine Lieblingslieder gespielt. „So nimm denn meine Hände“, war das, was mich am tiefsten berührt hat. Als er mit einem Gebet seine Predigt beendete, öffneten sich die Flügeltüren und sechs Männer im Frack und Zylinder kamen herein. Sie verbeugten sich ehrfurchtsvoll vor dir, bevor sie ihre weißen Handschuhe überzogen und dich zu deiner letzten Ruhestätte geleiteten. Ein langer Trauerzug folgte dir. Am Grab angekommen sprach der Pfarrer einige Verse und Psalme und gemeinsam beteten wir das Vaterunser. Dann breitete er seine Arme aus und bat Gott uns zu segnen und uns zu beschützen. Nacheinander gingen deine Kinder und als erster dein Mann ans Grab und nahmen Abschied von dir. Jedoch möchte ich dir nicht erzählen, wie weh das tat. In der Nacht vor der Beerdigung hast du mich, liebe Mama, mit deinem Gesang geweckt. Ich sah dich auf einer bunten Blumenwiese sitzen. Du warst so jung und schön. Als du mich bemerkt hast, hast du gelacht und gabst mir zu verstehen, dass es dir gut geht und wir nicht traurig sein sollen. Du warst so unendlich glücklich, wie ich dich zu Lebzeiten schon lange nicht mehr gesehen habe. Du hast mir durch diesen Traum soviel Kraft gegeben, dass ich das hier heute alles aushalten konnte. Außerdem habe ich deine Seele auf dem Friedhof mit den anderen Neuangekommenen in friedlicher Runde beobachtet. Mir war so, als hättest du uns gar nicht bemerkt, denn du warst so vertieft in deine neue Umgebung. Außerdem hast du dich aufs Tanzen und Singen gefreut. Da wo du jetzt bist, hast du viel Freude, es wird gesungen und gelacht.
Gern möchte ich dir diese Zeilen mit der Fluggesellschaft schicken, doch diese wird zurzeit leider bestreikt. Aus sicherer Quelle weiß ich aber, dass der Himmel ein Zeitungsabonnement hat und diese Zeilen auf diesem Weg bei dir ankommen.
Liebe Mama, wir werden dich immer lieben, doch lassen wir dich jetzt in Frieden gehen, denn wir wissen, dass du angekommen bist und auf deinen neuen Auftrag wartest.
In stiller Verbundenheit danken wir allen die uns auf diesem schweren Weg begleitet haben.
Deine Tochter und Geschwister

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